Der gewaltsame Konflikt zwischen Gaza und Israel hat in diesem Jahr einen neuen, dramatischen Höhepunkt erreicht. Wir haben unsere Kollegin Marianne Zepp aus dem Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv zur aktuellen politischen Lage und der Arbeit unserer Stiftung vor Ort befragt.
Dr. Marianne Zepp arbeitet seit 2011 für die Heinrich-Böll-Stiftung in Israel und ist dort als Programmdirektorin für die deutsch-israelischen Beziehungen zuständig. Zuvor war sie lange Zeit Referentin für das Themenfeld "Zeitgeschichte und Demokratische Entwicklung" bei der Heinrich-Böll-Bundesstiftung in Berlin.
Die derzeitige Eskalation des Gaza-Konfliktes wurde nur von wenigen in dieser brutalen und umfassenden Form vorausgesagt. Wie habt Ihr den Beginn des jetzigen Krieges erlebt und wie geht es Euch und Euren Projektpartner_innen jetzt?
Persönlich hat sich unser alltägliches Leben in Tel Aviv kaum verändert. Anders als im Süden Israels erleben wir fast täglich Alarm, aber keine Einschläge. Die Kolleg_innen berichten allerdings von Traumatisierungen ihrer Kinder durch die Sirenen und die angespannte Situtation. Anders sieht es auch aus bei Familien, bei denen der Sohn oder die Tochter im Militär dienen.
Projektpartner, die dezidiert im Bereich Menschenrechte und Friedenspolitik arbeiten, sehen sich erhöhten Angriffen und Kritik ausgesetzt.
Ein Hauptanliegen der Heinrich-Böll-Stiftung ist die Stärkung einer offenen, demokratischen und friedensfördernden Zivilgesellschaft. Mit welchen Projekten könnt Ihr diesem Ziel in der derzeitigen Situation, aber auch auf lange Sicht näherkommen?
Wir unterstützen Projekte wie bspw. Ir Amim, die in Jerusalem Aufklärungsarbeit über die Auswirkungen der Besatzung betreiben. Oder IPCRI (eine Dachorganisation für Israel-Palestine Creative Regional Initiatives), die für ein Ende der Besatzung und für nachhaltige Lösungen des Konflikts arbeiten. Ebenso im Bereich Flüchtlingspolitik, indem wir die Hotline for Migrants and Refugees unterstützen. Wir organisieren Debatten wie die Jerusalemer Gespräche mit deutschen und israelischen Politiker_innen und Expert_innen, die die gescheiterten Friedensverhandlungen und jetzt aktuell auch die Berichterstattung über den Krieg thematisieren. Wir pflegen intensive Kontakte zu Intellektuellen und Politiker_innen, die an Konfliktlösungen, an Friedensarbeit und an der Beförderung der Demokratie arbeiten.
In welche Organisationen oder Zusammenschlüsse setzt Ihr derzeit Hoffnung, wenn es um den Dialog zwischen Israelis und Palästinenser_innen geht? Wie positioniert sich die "Grüne Bewegung" HaTnu`a HaYeruqa im derzeitigen Konflikt?
Zu Beginn der Kämpfe hat die größte linksliberale Tageszeitung in Israel, Haaretz eine Friedenskonferenz initiiert, die dem Friedencamp in Israel wieder ins öffentliche Bewusstsein bringen sollte. Wir haben diese Konferenz unterstützt. Wie nachhaltig eine solche Sammlungsbewegung sein kann und welchen politischen Einfluss sie haben wird, muss sich noch herausstellen. Auf die derzeitige Regierung macht das keinen Eindruck.
Von den in der Knesset vertretenen Parteien haben wir zu Meretz die intensivsten Kontakte. Allerdings haben sich die Meretz-Vertreter_innen auch nicht offen öffentlich gegen den Bodenoffensive ausgesprochen. Tzipi Livni, Vorsitzende von Hatnua, unterstützte als Mitglied des Sicherheitskabinetts die Linie Netanyahus bis zum Waffenstillstandsabkommen, kontinuierlich weiter militärischen Druck auf Hamas auszuüben, aber gegebenenfalls die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Wie sie sich in den kommenden Verhandlungen positionieren wird, ist zur Zeit nicht vorherzusagen.
In der hiesigen Berichterstattung kommen, wie bei den meisten bewaffneten Konflikten, auffällig wenig Frauen zu Wort. Gibt es starke Akteurinnen, die in die politische Konfliktlösung einbezogen werden oder mit ihren eigenen Projekten mediale Aufmerksamkeit finden? Mit welchen Akteurinnen arbeitet Ihr zusammen?
Auf der öffentlichen politischen Bühne ist Livni die einflussreichste. Enge Verbindungen haben wir auch bspw. mit Naomi Chazan, die eine politische Stimme und anerkannte kritische Intellektuelle in Israel ist. Wir haben im letzten Jahr die Initiative zur Implementierung von NAP 1325 [Anm. d. R.: Nationaler Aktionsplan UN-Sicherheitsratsresolution 1325 "Frauen, Frieden und Sicherheit"] in Israel unterstützt. Außerdem unterstützen wir das Aktionsnetzwerk „Women Wage Peace“, das sich durch öffentliche Aktionen und Demonstrationen für ein nachhaltiges Friedensabkommen einsetzt.
Die diplomatische Vermittlungsarbeit zwischen den Konfliktparteien scheint immer wieder hoffnungslos zu sein. Momentan befürchten viel sogar einen Drei-Fronten-Krieg, da sich die Hamas im Gazastreifen mit der Hizbullah im Libanon und Islamisten in Syrien verbünden könnte. Worin könnten aus Eurer Perspektive hilfreiche friedensfördernde Maßnahmen der EU und auch Deutschlands bestehen?
In der Zwischenzeit haben wir einen unbegrenzten Waffenstillstand. Die nächsten Wochen werden entscheiden, ob es ein Abkommen zustande kommt, das spürbare Verbesserungen für die Bewohner des Gazastreifens bringt. Da Netanyahu durch die rechten Kabinettsmitglieder (Bennett, Lieberman) sehr unter Druck steht, wird die Frage sein, ob die Regierung eine Politik verfolgt, die die palästinensische Einheitsregierung als Verhandlungspartner anerkennt. Nur so wären ernsthafte Verhandlungen möglich. Deutschland und die EU sollten sich an ernsthaften Maßnahmen zum Aufbau der Infrastruktur in Gaza beteiligen.
Von deutscher und europäischer Seite sollte deutlich gemacht werden, dass die Unterstützung der Siedlungspolitik der derzeitigen Regierung völkerrechtswidrig und das Haupthindernis auf dem Weg zu einer dauerhaften Lösung ist. Schritte wie die Kennzeichnung von Produkten jenseits der Grünen Grenze sind die ersten Schritte.
Eine rasche Rückkehr zur Normalität nach Einstellung der Kampfhandlungen scheint derzeit kaum vorstellbar. Wird sich auch Eure Arbeit demnächst verändern?
Die nächsten Wochen werden zeigen, wie tief die Gräben sind, die der Krieg innerhalb der israelischen Gesellschaft geschlagen hat. Die Mehrheit der Israelis hat den Krieg gegen die Hamas als unvermeidlich angesehen, viele verbinden allerdings damit die Hoffnung, dass die Raketenangriffe auf den Süden des Landes beenden werden. Allerdings lassen die Angriffe, die von der Rechten gegen Menschenrechtsaktivisten und kritische Journalisten geführt werden, an der demokratischen Kultur zweifeln. Es gab bereits in den letzten Tagen und Wochen warnende Stimmen, die die Demokratie in Israel in Gefahr sehen.
Ein weiterer Punkt ist die Entfremdung zwischen jüdischen und arabischen Israelis. Letztere sehen sich zunehmenden Ausgrenzungen ausgesetzt. Selbst die NGOs, die sich dezidiert die Zusammenarbeit von beiden Gruppen verschrieben haben, kämpfen inzwischen mit internen Spannungen.